Doro aus Berlin

Liebe Renata,

eigentlich müsste es ständig in deinen Ohren klingeln, so oft denke ich in letzter Zeit an dich.

Jedes mal, wenn du die Einladung zu den Aufstellungen schickst, bedaure ich, daß ich jetzt so weit weggezogen bin, denn ich würde sehr gerne mal wieder dabei sein, da ich deine Arbeit sehr schätze.

Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich mich an die Fragen, die sich aus meiner Aufstellung im letzten Juni ergeben haben, rangemacht habe.

Ich wollte dir ein wenig von den Neuigkeiten, die sehr frisch sind, erzählen:

Mir ging es ja um die Frage, warum ich mich mit Nähe so schwer tue und gleichzeitig einen großen Wunsch danach habe.

Bei der Aufstellung ergab sich das Bild einer höchst mit Konflikt belasteten Beziehung zwischen meinen Großeltern,.

Ich wusste zwar dass sie sich haben scheiden lassen, aber nicht warum meine Omi so ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte. Jetzt habe ich durch nachfragen erfahren, dass meine Omi durch eine außereheliche Beziehung mit meinem Vater und seiner Zwillingsschwester schwanger wurde und es versucht hat ihrem Mann zu verheimlichen. Es flog jedoch auf und ihr Mann verließ das Haus als die Kinder 3 waren. Die Scheidung kam erst 3 Jahre später durch einen gerichtlichen Prozess 1941 zum Tragen. Der Vater blieb jedoch unbekannt. 

Die andere Frage, die sich für mich ergab war folgende: Meinen Großvater habe ich in der Aufstellung  "irrtümlicher weise" Erwin genannt, obwohl ich wusste, dass er Werner heißt. Da Erwin auch der Zweitname und Pate von meinem Vater ist, fragte ich nach seinem Verbleib. Es sei der Bruder seines "Vaters" gewesen, der nach der Geburt meines Vaters irgendwann nach Santiago de Chile ausgewandert ist. (Mein Vater ist selber der Spur nach seinem richtigen Vater nie nachgegangen. Ich weiss selbst gar nicht, ob er von dem wahren Scheidungsgrund nicht erst beim Wohnungsräumen nach dem Tod meiner Omi 1984 erfuhr.). Erwin schickte jedenfalls nach Kriegsende Carepakete an meine Omi und die Kinder. Über ihn habe ich noch gar keinen weiteren Informationen. Meinen Vater will ich im Moment nicht mit zu viel Fragen bedrängen, damit er nicht gleich "dicht" macht.

Gleichzeitig bin ich auf einen Briefwechsel meiner Omi mit einem Karl, dem 27 Jahre älteren Gutsverwalter nahe des Familien- Sommerhäuschens auf dem Land gestoßen. Darin bittet sie Karl in sehr vertraulichem Ton,  die Ehelichkeitserklärung der Kinder zu unterschreiben, da die Scheidung drohte und sie größte Angst um die Zukunft der "unehelichen" Kinder machte. Sie bezieht sich auf sein mehrfach gemachtes Hilfeangebot jeglicher Art.

Aus dem Briefwechsel geht nicht klar hervor, ob Karl tatsächlich der Vater der Kinder ist.

Ich weiß nicht, ob man zu der Zeit zur Rettung der Fassade solche Arrangements getroffen hat.

Ich bin jedenfalls dabei meine Recherchen mit verschiedenen Familienmitgliedern zu vertiefen und finde auch großen Spaß daran. 

In wie weit meine detektivische Arbeit auch mit der Suche nach echter Nähe verknüpft ist, ist mir zwar nicht ganz klar, aber da ich es mit so viel Inbrunst tue, denke ich mir ich bin auf einem guten Weg.

Was mich persönlich betrifft fühle ich mich in Berlin häufig recht einsam. Das liegt vor allem daran, dass ich auch zur Zeit alleine wohne weil ich noch keine ideale Wohnsituation gefunden habe. Ich bin beruflich noch lange nicht angekommen, habe einen sehr unstrukturierten Alltag und fühle mich oft von meiner selbstgewählten Veränderung überfordert.

Trotzdem glaube ich, dass die Entscheidung wieder nach Deutschland zu ziehen für mich richtig war und es einfach seine Zeit braucht. Der Winter in Berlin ist recht grau und verregnet und auch meine  Bekannten, Freunde und Verwandte, die ich hier schon habe, sind unternehmungsmüde. Ich sehne mich nach der Energie des kommenden Frühlings und hoffe dass alles sich zum Leichten wendet. Irgendwie passt meine Familienrecherche auch gerade sehr gut in die Zeit meiner aktuellen Aufgabenlosigkeit. Es füllt meine teilweise leeren Tage und ich habe zum Glück  Menschen mit denen ich meine neuen Entdeckungen teilen kann.

Ich danke dir nochmals, dass du mir diesen Zugang zu meiner Familie und dann hoffentlich später auch zu mir selbst ermöglicht hast.

Ich hoffe auch, dass du bei deiner intensiven Suche deiner eigenen Geschichte endlich fündig wirst. Das wünsche ich dir von Herzen.

So sende ich dir ganz liebe Grüße aus Berlin und hoffe, dass wir uns bald wiedersehen oder sprechen. Es würde mich natürlich auch sehr interessieren, wenn dir zu meiner Geschichte etwas (wieder)ein- oder auffällt, 

Dorothee